Leseprobe

Als ich am nächsten Morgen aufwache, hat sich etwas verändert. Ich bemerke es erst, als ich nach dem Duschen vorm Spiegel stehe und mir die Haare kämme. Zum ersten Mal seit Langem ist da wieder ein Glanz in meinen Augen. Nicht viel, aber dennoch genug, dass er mich zum Lächeln bringt. Und in dem Moment weiß ich, was ich tun muss.
»Du willst was machen?« Mia stellt ihre Tasse auf den Tisch und starrt mich entgeistert an.
Ich habe ihr alles im Schnelldurchlauf erzählt. Von Edith, dem Abendessen gestern, meiner Panikattacke und dem mysteriösen Traum. Und dann habe ich ihr meinen neuen Plan mitgeteilt. Das war der Moment, in dem sie mich angeschaut hat, als hätte ich den Verstand verloren.
»Also, nur um sicherzugehen, dass ich dich wirklich richtig verstanden habe«, beginnt Mia in ihrem bewusst ruhigen Tonfall, den sie sonst immer bei den Jugendlichen anschlägt, wenn die irgendwelche Dummheiten angestellt haben. »Du glaubst also, dass es den Ort, von dem du geträumt hast, tatsächlich gibt und dass du da aus irgendeinem Grund hinmusst. Und jetzt willst du so schnell wie möglich nach Kanada fliegen und dort im Nationalpark ein Wolfsrudel suchen, weil du denkst, dass sich der Ort wegen dem vielen Schnee und den Nadelbäumen dort befindet.«
Wenn sie das so sagt, hört es sich selbst für mich total verrückt an. Ich weiß nicht, wie ich ihr meinen spontanen Sinneswandel erklären soll. Statt einer Antwort nippe ich an meinem Kaffee.
»Ist das nicht etwas überstürzt?«, fragt meine sonst so lässige Mitbewohnerin nun sichtlich besorgt. »Geht’s dir gut?«
»Nein, mir geht es nicht gut! Deshalb will ich ja weg«, entfährt es mir. Ich stelle die Tasse so ungestüm auf den Tisch, dass der Kaffee überschwappt. »Ich muss einfach mal raus! Das mit Kanada ist ein Anfang. Wenn es mir dort nicht gefällt, gehe ich woandershin. Es muss sich etwas verändern. Ich hänge hier im immer gleichen Trott fest. Tagsüber habe ich keine Zeit und abends oder am Wochenende bin ich zu müde. Ich habe Angst, dass ich da nie mehr herauskomme, wenn ich jetzt nichts mache. Das mit Edith hat mir gezeigt, wie schnell alles vorbei sein kann. Ich glaube, wenn ich erstmal an einem neuen Ort bin, dann kommen mir auch neue Ideen. In Kanada kennt mich keiner. Da habe ich die Möglichkeit, neue Seiten an mir zu entdecken«, sprudelt es nur so aus mir heraus.
Mia hört mir aufmerksam zu und schweigt.
»Du glaubst, ich habe einen Sprung in der Schüssel?« Ich seufze, während ich mit einer Serviette den Kaffee von der Tischplatte wische.
»Nein, ich glaube, dass du gerade schrecklich unglücklich bist und da unbedingt raus willst«, erklärt sie mir. »Versteh mich nicht falsch. Ich finde es gut, dass du etwas verändern willst. Aber meinst du, nur weil du jetzt wegfährst, fühlst du dich automatisch besser? Bist du sicher, dass du nicht wegläufst?«
»Vielleicht …«, gestehe ich nachdenklich. »Aber das ist besser, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Ich brauche diesen Tapetenwechsel jetzt dringend.«
Mia nickt und bestreicht das Knäckebrot, das vor ihr auf dem Teller liegt, mit Marmelade. Ich werfe derweil einen Blick auf meinen Laptop. Ich habe heute früh schon etliche Suchanfragen zu Wölfen in Kanada gestellt. Bisher waren alle erfolglos. Es gibt zwar viele Wolfsrudel dort, aber welche, die man streicheln kann, habe ich noch nicht gefunden. Außerdem sehen die Bilder der Nationalparks meist anders aus als in meinem Traum.
Ich überlege gerade, ob ich nicht auch erstmal frühstücken soll, da habe ich einen Treffer: einen Tierpark in Bardu. Wo ist das denn? Neugierig gebe ich den Ort in die Onlinekarte ein. Ich zoome heraus, um zu schauen, wo ich auf der Welt gelandet bin, und stelle zu meiner Überraschung fest, dass ich nicht mehr in Kanada bin. Eine zerklüftete Küste wird sichtbar.
Ich befinde mich in Nordeuropa, genauer gesagt, in dem schmalen nördlichen Zipfel von Norwegen. Ich wusste gar nicht, dass Norwegen so weit in den Norden reicht. Die Küste zieht sich bis über Schweden und Finnland.
»Ich habe etwas gefunden«, wende ich mich an Mia. Ich rücke mit meinem Stuhl neben sie und drehe den Laptop in ihre Richtung.
»Das ist aber gar nicht Kanada! Willst du jetzt plötzlich nach Norwegen, oder was?« Ihr Blick spricht Bände.
Unbeirrt klicke ich auf den Link zur Homepage des Parks. »Da wirkt ein Verein für den Schutz von Wildtieren im Hintergrund mit«, murmele ich, als ich durch die Seite scrolle.
»Dann geht es den Tieren dort bestimmt auch gut«, meint Mia und betrachtet dabei aufmerksam das Bild einer Rentierherde, die auf einem schneebedeckten Hügel steht.

»Schau mal, die suchen eine Aushilfe!«, sage ich begeistert und deute auf die Annonce unter Aktuelle Infos. Wenn das kein gutes Zeichen ist!
»Ja, da steht aber, dass sie bis mindestens Ende März jemanden brauchen. Das sind fast fünf Monate. Was ist denn mit deinem Job? Bisschen lang für Urlaub, oder?«
»Ich werde kündigen«, beschließe ich in dem Moment und es fühlt sich unfassbar befreiend an. »Ich bin noch in der Probezeit. Und du hast doch selbst gesagt, ich soll etwas mit Tieren machen.«
»Da wusste ich ja auch noch nicht, dass du dann am nächsten Morgen plötzlich Wölfe in Kanada füttern willst … oder in Norwegen«, verbessert sie sich schnell und lacht. »Und Felix? Der weiß ja noch von nichts, oder?«
Wir schweigen einen Moment lang. Mit Felix muss ich so schnell wie möglich reden. Dieses Gespräch ist längst überfällig. Mein Magen zieht sich bei dem Gedanken direkt wieder zusammen.
Mia kann mir anscheinend meine Sorgen vom Gesicht ablesen. »Willst du nicht doch lieber noch mal eine Nacht darüber schlafen? Das sind immerhin wichtige Entscheidungen.«
»Nein!«, entgegne ich energisch. »Wenn ich länger darüber nachdenke, dann mache ich es nicht. Außerdem suchen die im Park jetzt jemanden. Wenn ich zu lange warte, ist der Job vielleicht weg.«
»So kenne ich dich gar nicht!« Mia schüttelt den Kopf und lacht.
»Ich mich auch nicht«, gebe ich verwundert zurück und kopiere dann die E-Mail-Adresse des Tierparks, um meine Bewerbungsunterlagen dorthin zu schicken. Hoffentlich fällt mir ein guter Text ein, warum ich für den Job geeignet bin. Viel Erfahrung in dem Bereich habe ich nicht gerade vorzuweisen. »Mir macht das schon Angst«, gestehe ich Mia unvermittelt. »Aber ich habe mich in dem Traum so unfassbar lebendig gefühlt. Er hat eine tiefe Sehnsucht in mir geweckt, die ich lange vergessen habe, oder besser gesagt erfolgreich verdrängt habe. Mir ist dadurch bewusst geworden, wie leer und fremd ich mich in meinem Leben fühle. Ich muss das machen, bevor mich der Mut wieder verlässt.«
»Das kriegen wir schon hin. Ich unterstütze dich dabei und mache dir Feuer unterm Hintern, falls du doch Schiss bekommst«, bestärkt mich Mia und wir müssen beide lachen. Gott sei Dank habe ich eine so gute Freundin an meiner Seite.

 

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