Leseprobe „Crystal Island“ Band 1 der Kristallsaga von D.C. Bells

Leseprobe – Kapitel 4

Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht und für einen kurzen glücklichen Moment war die Erinnerung völlig blank. Würde ihre Mutter sie gleich für die Schule wecken? Ihr Ehemann Kaffee ans Bett bringen? Oder der Handyalarm sie schrill zwingen, sich für die Arbeit fertig zu machen? Die erste Empfindung neben Wärme und dem orangefarbenen Leuchten der Sonne durch ihre geschlossenen Lider war ein stechender Schmerz beim Schlucken. Ihre ausgedörrte Kehle schmerzte. Hatte sie eine Grippe? Caroline wollte nach ihrem Hals tasten, doch ein schmerzhafter Ruck am Arm stoppte sie.

Sie riss die Augen auf und schaffte es, den Kopf zu heben, bevor sie kraftlos zurück ins weiche Kissen sank. Das dunkel verkrustete rechte Handgelenk war mit Handschellen an ein Krankenhausbett fixiert. Ihr Blick huschte umher. Was war hier los? Sie musste sich erinnern, was geschehen war, bevor die aufkeimende Panik die Fähigkeit, klar zu denken, begraben würde. Das weiß getünchte Zimmer lieferte keine Hinweise. Eine Toilette war ohne Sichtschutz an der Wand montiert und ein tiefer Sprung verunstaltete das Waschbecken daneben. Der niedere Plastiknachttisch auf Rollen und ein gebrechlicher Holzstuhl erinnerten ebenfalls an ein Krankenhaus. Wobei, die Ausstattung wäre selbst für ein Lazarett erbärmlich. Und erklärte nicht die Handschellen.

Was war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte? Sie zwang sich, den Mund zu schließen und langsam durch die Nase zu atmen.

Schwarzer Ozean.

Karamellduft.

Das Kreuzfahrtschiff.

Isy.

Und … die unmenschlich starke Hand um ihren Hals! Mit einem Schlag war alles wieder da. Sie setzte sich auf und fasste sich mit der freien Hand an die dick verbundene Kehle.

Diese Augen, der mörderische Ausdruck, mit dem der Typ sie angefallen hatte. Mit seinen … Sie hielt bei dem Gedanken inne und ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen. Mit seinen … Zähnen.

Großer Gott, was waren das für Wesen?

Sie glaubte nicht an Übernatürliches. Sie glaubte jedoch, dass es Dinge im Universum gab, die noch nicht erforscht waren. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren nicht absolut. Wissenschaft hinterfragte und entwickelte sich per Definition ständig weiter. Caroline hatte zwar ein stabiles Weltbild, war aber durchaus bereit, es bei ordentlicher Beweislage anzupassen. Vor langer Zeit hatte sie Biologie mit Fokus auf Humangenetik studiert und unfreiwillig abgebrochen. Ihren Master in Psychologie hatte sie einige Jahre später allerdings mit Bravour gemeistert. Sie war damit in die freie Wirtschaft gegangen, konnte daher zwar niemanden therapieren, aber verdammt noch mal die richtigen Fragen stellen! Also los! Was für Beobachtungen hatte sie gemacht, welche Fakten ließen sich daraus ableiten und was bedeutete das für ihre Zukunft?

Caroline atmete bewusst zehnmal mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Ihre Gedanken beruhigten sich, der Herzschlag wurde langsamer und der Drang, sich in Embryonalstellung zusammenzurollen, ließ nach.

Sie und Isy waren entführt worden, wobei ihre Freundin das Ziel gewesen war. Die Entführer waren auf den ersten Blick Menschen. Sie hatten zu verschiedenen Gelegenheiten allerdings gezeigt, dass sie über weit mehr Kraft verfügten, als es mit einem menschlichen Muskelapparat möglich sein dürfte. Allein die U-Boot-Luke und der Sprung von …

Caroline fügte alle gesammelten Fakten rational zusammen. Sie ignorierte die voreilig urteilende innere Stimme, die ihr unbarmherzig entgegenschrie, was offensichtlich war.

Bevor sie die Analyse beenden konnte, öffnete sich die Tür. Obwohl alles in ihr danach lechzte, sich die Decke über den Kopf zu ziehen. zwang sie sich, regungslos zu bleiben.

Zwei der drei Personen, die den Raum betraten, kannte sie. Das eiskalte Miststück, das sie entführt hatte, Rebekka, und den hochgewachsenen blonden Mann, den sie Mr. Amerika getauft hatte. Den dritten Kerl hatte sie nie zuvor gesehen. Er war ein wenig kleiner als ihr Entführer, aber ähnlich muskulös gebaut. Das schwarze drahtige Haar war kurz geschnitten. Alle drei trugen Uniform. Es mangelte Caroline an Vergleichen, doch es schien keine klassische Militäruniform zu sein. Eher eine Art SWAT-Montur. Kleidung für den Kampfeinsatz.

»Hallo, Caroline.« Die Frau zog einen Becher aus dem Nachttisch hervor und füllte ihn am Waschbecken mit Wasser.

Caroline wollte sich automatisch bedanken, doch ihr entwich nur ein Krächzen. Sie nahm einen Schluck und würgte ihn unter Schmerzen herunter.

»Probier es noch mal«, befahl die Frau.

»Wrras denn?«, brachte sie heiser, aber verständlich hervor.

»Trink leer und nimm eine hiervon!« Eine Packung medizinischer Lutschtabletten landete auf der Zudecke. »Du wirst deine Stimme brauchen. Wir haben Fragen.«

Nachdem der Becher erneut aufgefüllt war, Mr. Amerika die Handschelle gelöst hatte und Caroline einige Sekunden an einer grünen Tablette gelutscht hatte, begann Rebekka, sie zu bombardieren.

»Wer bist du und wo kommst du her?«

»Wie bist du auf das Schiff gekommen?«

»Was machst du beruflich?«

»Warum bist du uns vom Schiff über die Reling gefolgt?«

»Woher kennst du Isabelle?«

»Wo bist du aufgewachsen?«

Die Fragen prasselten auf sie nieder und schienen keinem konkreten Muster zu folgen. Sie antwortete so knapp wie möglich und rieb sich sachte das geschundene Handgelenk. Die beiden Männer ließen sie nicht aus den Augen.

»Warum hast du den Stein geworfen?«

Shit. Auf diese Frage hatte Caroline gewartet und ihr war keine Erwiderung eingefallen. Wenn sie wahrheitsgemäß antwortete, würde es offenlegen, wie viel Isy ihr bedeutete, und das Mädchen in Gefahr bringen.

»Ich konnte meine Hände befreien und wollte einen Fluchtversuch unternehmen«, sagte sie ausdruckslos.

»Hmpf!« Mr. Amerika schnaubte leise und Rebekka hob eine ihrer schmalen Augenbrauen.

»Und jetzt probieren wir es noch mal mit der Wahrheit.«

»Das ist die Wahrheit, Rebekka!«

Angriff war manchmal die beste Verteidigung. Oder?

Die Männer sahen sich an und die Frau legte ihr Klemmbrett beiseite. Plötzlich lächelte sie. Es war das erste Mal, dass Caroline das Miststück lächeln sah. Es machte ihr höllische Angst.

»Caroline.« Sie sprach den Namen liebevoll aus. »Ich glaube, du hast keine Ahnung, in welcher Situation du dich befindest. Lass es mich dir erläutern.« Sie zog den Stuhl zu sich und setzte sich verkehrt herum darauf, die Arme lässig auf der Lehne verschränkt. »Du bist doch eine clevere junge Frau. Dir ist bestimmt aufgefallen …« Sie deutete auf den dick verbundenen Hals. »… dass du es nicht mit Menschen zu tun hast.«

»Direkt mit der Tür ins Haus«, murmelte Caroline unbehaglich, hielt jedoch den Blickkontakt. Es war nicht zu leugnen, dass ein Teil von ihr gespannt die Erklärung erwartete. In der Biologie war die Entdeckung einer neuen Spezies nicht gerade an der Tagesordnung und schon bei Insekten und anderen wirbellosen Tieren etwas Besonderes. In der Größenordnung Säugetier kam es nahezu gar nicht vor. Das Einzige, was die wissenschaftliche Begeisterung trübte, war, von besagter Spezies versklavt und getötet zu werden.

Rebekka wirkte einen Moment lang ungehalten, ignorierte ihren Einwurf allerdings. Resolut fuhr sie fort: »Was in deinem Kulturkreis unsere Art am ehesten beschreibt, ist das Wort Vampir

Carolines innere Stimme sprang auf und hielt ein fettes Plakat in die Höhe, auf dem in Großbuchstaben »Ich hab’s dir ja gesagt« geschrieben stand. Der Selbsterhaltungstrieb siegte und sie blieb regungslos sitzen.

Es gab nichts Übernatürliches. Es gab nur Natürliches, und manches davon war eben noch nicht entdeckt! Diese Wesen, egal wie romantisiert und mystifiziert, war denselben Naturgesetzen und derselben Umwelt unterworfen wie sie. Sie musste so viel wie möglich darüber herauszufinden, was sie ausmachte.

Rebekka sah ihr prüfend in die Augen. Offensichtlich wartete sie auf eine Reaktion. Als keine kam, fuhr sie fort. »Einige Beschreibungen und Geschichten kommen dem, was wir sind, sehr nahe, andere sind äußerst absurd.«

»Ja, wie du siehst, glitzern wir nicht«, warf der unbekannte Vampir ein.

Rebekka blickte kurz tadelnd zu ihm hinüber.

»Nicht, dass es uns stören würde, dass ihr Menschen so einen Quatsch erfindet.« Sie drehte sich wieder zu Caroline. »Es hilft, unentdeckt zu bleiben, und macht es unseren Feinden schwerer, herauszufinden, mit wem sie es tatsächlich zu tun haben.«

»Feinden? Meinst du zum Beispiel Werwölfe?« Sie konnte sich nicht zurückhalten und der Kommentar rutschte bissig heraus.

»Wow, das haben wir noch nie gehört!«, erwiderte Mr. Amerika mit zuckenden Mundwinkeln.

»Zehn Punkte für Kreativität, was meinst du?«, sagte der Kleine und ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

»Wollt ihr beide vielleicht einfach weitermachen?« Rebekka rollte genervt mit den Augen. »Werwölfe oder was auch immer.«

Caroline traute sich nicht, zu fragen, ob Rebekkas Antwort ebenfalls sarkastisch gemeint war. Menschenähnliche Blutsauger verkraftete ihr Gehirn. Menschen, die ihr komplettes Äußeres in ein Tier verwandelten? Da hörte es auf!

»Um zum Punkt zu kommen: Ja, wir haben Feinde. Und du«, sie zeigte auf Carolines Brust, »hast dafür gesorgt, dass du dazugehörst, indem du einen von uns getötet hast.«

Jeder Spott war verschwunden. Auch die beiden Männer sahen aus, als wäre ihnen nicht mehr zum Spaßen zumute.

»Sekunde, was?« Caroline tat überrascht. »Ihr denkt, ich hätte ihn getötet?«

»Hast du das nicht?«

»Nein, verdammt, ich habe niemanden getötet! Ich bin abgehauen und dann …« Ihre Stimme wurde dünner. Shit, das Zögern dauert zu lange. »Dann ist ein Unfall passiert«, beendete sie den Satz.

»Ein Unfall?« Rebekkas Wiederholung troff nur so vor Ungläubigkeit. »Etwas Besseres fällt dir nicht ein?«

»Was denn sonst? Glaubt ihr etwa, ich habe mich absichtlich gefangen nehmen lassen, um mit einem Stein auf euch loszugehen?«

»Nun, vielleicht war das ja nicht der ursprüngliche Plan.« Rebekka wirkte wieder äußerst freundlich. »Was ist denn passiert? Ist etwas schiefgegangen, als du dich einschleichen wolltest?«

Das war nicht ihr Ernst! Dachten die etwa, dass sie eine Art Spionin oder Vampirattentäterin war?

»Mir liegt ein Buffy-Kommentar auf der Zunge, aber ich befürchte, damit kann ich auch nicht punkten.« Sie sah die beiden Männer betont grimmig an und meinte bei Mr. Amerika sogar ein winziges, kaum wahrnehmbares Ziehen im Mundwinkel zu erkennen.

»Um die Frage ganz klar zu beantworten: Ich hatte keine Ahnung, wer ihr seid oder was passieren würde. Ich wollte nur einem Mädchen helfen, das offensichtlich entführt wird. Ich wollte nie jemanden umbringen und gehöre auch nicht zu irgendwelchen Feinden. Wenn ich euch hätte ausspionieren wollen, hätte ich mich brav abführen lassen und mich nicht in einen aussichtslosen Zweikampf gestürzt.« Caroline hoffte, dass die Entführer die eine Lüge nicht durchschauten. Sie musste sich selbst einreden, dass es stimmte! Selbst davon überzeugt sein, dass sie den Psychovampir nicht hatte töten wollen. Dann würde sie eventuell damit durchkommen.

»Ach, weißt du, ich glaube dir.« Rebekka zog einen dünnen Stapel Papier unter ihrem Notizblock hervor. »Dein Lebenslauf ist zu«, sie suchte kurz nach dem richtigen Wort und lächelte dann zufrieden, »durchschnittlich.« Es klang fast gehässig, wie sie es aussprach. »Das Problem ist nur, dass es kaum eine Rolle spielen wird.« Sie legte das Notizbuch und den Stapel beiseite. Caroline meinte, ihr LinkedIn-Profilbild und eine Kopie ihres Reisepasses darauf erkannt zu haben.

»Du hast nicht irgendeinen Vampir getötet.« Rebekka räusperte sich umständlich. »Du bist hier in einer der größten Gemeinschaften gelandet, die seit Beginn unserer Art existieren. Das Modell, das für uns bisher am besten funktioniert, ist an die parlamentarische Monarchie angelehnt. Das bedeutet, es gibt einen König und ein Parlament mit dreißig Mitgliedern, den Ältesten. In unserem Fall werden weder Anführer noch Parlament gewählt, sondern aus der Verantwortung heraus bestimmt.«

Sie schien ihre Rede schon oft gehalten zu haben. Vermutlich war es Teil ihrer Aufgabe, die Neuen über hiesige Verhältnisse zu informieren. Sie ratterte den Text zumindest sicher und ohne Luft zu holen herunter.

»Die Verantwortung leitet sich zum einen aus dem Alter eines Vampirs, zum anderen aus seinen Kompetenzen und dem dadurch generierten Beitrag zur Gemeinschaft ab.«

»Na ja, realistisch betrachtet hätten sie es auch einfach beim Alter belassen können«, warf Mr. Amerika ein und verdrehte die Augen.

Rebekka blitzte ihn über die Schulter hinweg an. »Nun, mit dem Alter kommen eben auch erst viele Kompetenzen und es entwickeln sich …« Sie unterbrach sich selbst mit einem tiefen Seufzer und sah wieder zu Caroline.

»Für dich ist nur relevant, dass eben jenes Parlament und vor allem der König über dein weiteres Schicksal bestimmen werden.«

Die Vampirin erhob sich und beugte sich ein wenig zu ihr herunter. »Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie gnädig gestimmt sein werden.« Das Flüstern war ernst, ohne die geringste Spur von Humor, Sarkasmus oder geheuchelter Freundlichkeit. »Auf die Ermordung eines beliebigen Vampirs steht schon eine öffentliche Hinrichtung. Und du, meine Liebe, hast einen der Ältesten getötet.«